Ein Wort zum Montag, dem 28.September 2020

VON CORNELIA SENG

Am letzten Samstag stand sie plötzlich unter unserem Balkon, die junge Frau im Alter unserer Töchter. Sie wolle etwas zu trinken, forderte sie barsch. Ich habe ein Glas Wasser angeboten. Sie wolle Mezzo-Mix, sagte sie, sie trinke nur Mezzo-Mix. Mezzo-Mix habe ich leider nicht, aber ich biete ihr an, was ich habe. Sie solle bitte im Vorgarten warten, ich käme runter. 

Bevor ich fertig bin, hat sie schon bei der Nachbarin geklingelt und steht im Hausflur. „Ich kriege hier nichts zu trinken“, klagt sie immer wieder. Meine Bionade lehnt sie ab. 

Nach langem Bemühen stellt sich heraus, dass sie aus der Psychiatrischen Klinik im Landkreis kommt und in ihr eigenes Zuhause will. Wo genau das ist, sagt sie nicht. Aber ich solle sie hinfahren. Nur – den Schlüssel zu ihrer Wohnung habe sie weggeworfen. Nach sehr langem und behutsamem Bemühen haben wir endlich mit Hilfe der Polizei die Eltern benachrichtigen können. Und wussten sie dann gut aufgehoben.

Ob die ganze Aktion richtig war, weiß ich nicht. Ihr Therapeut wäre vermutlich nicht einverstanden. Schließlich muss sie lernen, Therapien nicht abzubrechen. Sie soll lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Habe ich nur ihr krankes System verstärkt?

Aber ich bin kein Therapeut, ich bin nur ein Mitmensch. Ich habe eine andere Rolle. Es gibt immer starke Argumente gegen die Mitmenschlichkeit.

Gerade haben sie Hochkunjunktur in unserem Land. „Warum gerade ich?“ oder „Nur, wenn die anderen auch mitmachen“, sind die beliebtesten. Aber auch: „Dann kommen ja alle“ oder „Das ist gefährlich, schließlich wissen wir nicht, wer da kommt!“

Auch Jesus waren solche Argumente bekannt. In der Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“, die er erzählt, sind es die Argumente der frommen, gerechten Männer. Sie gehen schnellen Schrittes vorüber und lassen den verwundeten Menschen am Rand liegen. ‚Besser nicht helfen!‘ – ‚Warum gerade ich?‘ – ‚Ich bringe mich in Gefahr‘. Nur der Samariter hilft. „Wer, meinst du, ist ein Mitmensch gewesen dem, der unter die Räuber gefallen ist?“ fragt Jesus seine frommen Zuhörer. „Der die Barmherzigkeit an ihm tat“, ist die logische Antwort. – „So geh hin und tu desgleichen!“ (Lk.10,25-37).

So einfach ist das.