Ein Wort zum Montag, dem 4. Januar 2021 

VON CORNELIA SENG

„Eine Träne ist gut für das Auge, ein trockenes Auge ist nicht gesund“. Das sagte Ivry Gitlis, der französische Stargeiger in einem Interview. Er ist an Heiligabend im Alter von 92 Jahren in Paris gestorben. 

Mit trockenem Auge blickt Europa auf die Flüchtlingslager in Griechenland, mit trockenem Auge auf die Flüchtlinge in Bosnien-Herzogowina, mit trockenem Auge auf die Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, die in Italien und anderswo in mafiösen Strukturen als billige Landarbeiter ausgebeutet werden. Mit trockenem Auge nehmen wir hin, dass auch unter uns schon jahrelang Menschen leben, denen die Arbeitsgenehmigung verweigert wird, sie werden zu „Illegalen“ erklärt, ohne je eine Straftat begangen zu haben. Sie wandern durch Europa, zelten mal in Paris, mal anderswo, bis sie wieder von der Polizei vertrieben werden. Mit trockenem Auge nehmen wir hin, dass auch Menschen, die bei uns in Lohn und Brot sind, Angst vor Abschiebung haben, einer Abschiebung in ein Land ohne Zuhause. Und sagen: So sind die Regeln. Oft sind diese unsinnig und viel öfter unbarmherzig. Regeln, die wir selbst gemacht haben.

Barmherzigkeit – was war das noch gleich? Ein trockenes Auge ist nicht gesund, sagte Ivry Gitlis. 

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“, sagt Jesus (Lukas 6,36). Das ist die Jahreslosung für das neue Jahr, das vor uns liegt. Seid wie Gott – seid barmherzig! Lasst die Barmherzigkeit eure Reden und eure Taten bestimmen. Barmherzig sei auch eure Politik. 

Ich höre, wie manche jetzt sagen: Barmherzigkeit ist kein Wert der Politik! Folgt Politik eiskalt und unbarmherzig ihren eigenen Regeln? Aber die Regeln sollten sich an den Menschenrechten orientieren, an der Würde eines jeden Menschen. Das hatte sich Europa nach dem Elend des Zweiten Weltkriegs vorgenommen. 

Es liegt mir nicht, Losungen wie Vorhersagen, wie Prophezeiungen, zu verstehen. Aber in diesem Fall möchte ich es gerne so sehen. 

Möge diese Jahreslosung eine Prophetie für das kommende Jahr sein. Dann werden wir es lernen, barmherzig zu sein, grenzenlos barmherzig. Wir werden Menschen wie Mitmenschen behandeln, mit Würde und Respekt. Alle und jeden und jede. Und ihnen helfen, einen Platz zu finden zwischen uns. Wir werden Regeln machen, die Barmherzigkeit zulassen.

Die Barmherzigkeit macht uns menschlich, menschlich – wie Gott zu Weihnachten! Mit einer Träne im Auge werden wir die Barmherzigkeit spüren.